Eine Schiffskollision schlägt ein Leck in den LNG-Tank, das tiefkalt verflüssigte Erdgas tritt aus, bildet eine Lache im Wasser und verdampft schnell. Unsichtbar zieht die Dampfwolke über ein Wohngebiet, trifft auf eine beliebige Zündquelle. Flammen schlagen zurück bis zum Schiff und setzen die LNG-Lache in Brand.
Was sich wie der Beginn einer Katastrophenfilmszene liest, entspricht den Schilderungen des Worst Case Szenarios von Brian Paul Mo-Ajok. Der IFV-Programmmanager für Umgebungssicherheit hielt am 22. Februar in Duisburg einen Vortrag über die Entwicklung von Notfallmaßnahmen für Unfälle mit Liquified Natural Gas (LNG). „Um durch eine Schiffshülle und den LNG-Tank hindurch zu kommen, ist schon viel Kraft nötig“, ergänzte der Rotterdamer Feuerwehrspezialist.
Dass die im Video gezeigte Motoryacht diese Kraft aufbringt, halten weder Referent noch Fachleute für realistisch. Es müssten schon große Binnenschiffe im ungünstigsten Winkel zusammenstoßen. Mo-Ajok: „Der Gedanke ist dennoch klar geworden.“ Es geht eben um den größtmöglich anzunehmenden Unfall, den es in die Risikobewertung einzubeziehen gilt – auch wenn er unwahrscheinlich ist.
Die gleichen potenziellen Gefahren zeigt eine den LNG-Masterplan Rhein – Main – Donau begleitende Sicherheits- und Risikostudie von April 2015 auf. Mo-Ajok gehört ebenfalls zu den Autoren. Nachzulesen ab Seitennummer 34 beziehungsweise Seite 45 der PDF-Datei ist dort weiterhin: Wer mit dem Feuer in Kontakt kommt, erleidet Verbrennungen. Der Lachenbrand schneidet möglicherweise Fluchtwege für die Schiffsbesatzung ab. Wo das Methangas den Sauerstoff verdrängt, besteht Erstickungsgefahr.
Nachgeliefert
Die Vorträge der Veranstaltung „LNG in der Binnenschifffahrt – Entwicklungen, Erfahrungen, Erfolge“ vom 22. Februar hat das nordrhein-westfälische Verkehrsministerium einen knappen Monat später zum Download bereitgestellt. In der Präsentation Notfallmaßnahmen fehlen jedoch die Computeranimation der über Flussufer und Wohngebiet kriechenden Gaswolke sowie ein Youtube-Link. Die PR-Agentur des Ministeriums verweist auf fehlende Freigaben durch den Referenten. Anderslautend sagte Mo-Ajok am Telefon gegenüber Bonapart: „Es geht darum, Wissen zu teilen, damit Fehler vermieden werden können.“
Beide Videos gehören der Falck Fire Academy aus Rotterdam. Deren dänisches Mutterhaus ist als Dienstleister weltweit im Feuerwehr- und Rettungswesen tätig. Das Eigeninteresse an einer Veröffentlichung ist erkennbar. Auf Anfrage von Bonapart stimmt die zuständige Projektmanagerin einer Nutzung von Screenshots aus der Crash-Animation schnell zu.
Das zweite Video ist ohnehin frei zugänglich. Auf zum Teil flimmernden Infrarotbildern ist auf dem Youtube-Kanal des Unternehmens zu sehen, wie sich Methangas aus LNG-Verdampfung jenseits der sichtbaren Wolke ausbreitet. Wie es sich entzündet und wie es zu löschen ist. Wie Schutzkleidung auf den Kontakt mit der Kryo-Flüssigkeit reagiert. Wie der Kontakt mit Wasser einen rapiden Phasenübergang (RPT) von flüssigem LNG in den gasförmigen Zustand auslöst.
Besonderheit Binnenwasserstraße
Tritt LNG direkt in ein Gewässer aus, verdampfen aus der Lache pro Quadratmeter Oberfläche bis zu 15 Kubikmeter Erdgas pro Minute. Zum Vergleich: Auf festem, weniger wärmeleitfähigem Grund sind es bis zu drei Kubikmeter. Hinzu kommt, dass der kalte LNG-Dampf anfangs schwerer als Luft ist. Er kann sich eine Weile zwischen Uferböschungen und Deichen, aber auch in Flusstälern oder Straßenschluchten konzentrieren.
Dass die geschilderten Szenarien keine Übertreibung darstellen, bestätigte Klaus P. Hecker gegenüber Bonapart. Und holt noch weiter aus. „Ungeschützter Stahl erleidet Sprödbrüche durch die kalte Flüssigkeit, Menschen Erfrierungen. Auch der Lachenbrand hat wahrscheinlich weitere Auswirkungen auf den Havarieverlauf“, sagte der heute 80-Jährige. Das geht ebenso aus der Studie hervor.
Hecker kann auf eine langjährige Berufserfahrung als Binnenschiffer, Feuerlöschboot-Kapitän, Brandschutz-Sachverständiger, Buchautor, Feuerwehr-Ausbilder und Sicherheitsberater im In- und Ausland zurückblicken. Ein Fahrgast- oder Tankmotorschiff will er im LNG-Havariefall nicht in der Nähe wissen. „Wenn es bei LNG rummst, dann richtig.“
Eine Frage der Dimension
Dabei geht es in der Binnenschifffahrt laut Studie um 160 bis zu 1.870 Kubikmeter freizusetzendem LNG. Je nachdem, ob ein Treibstoff- oder Membran-Ladetank leckt. Pro Schiffsladung könnten es über 4.000 Kubikmeter werden. Das ist deutlich weniger als bei den an der kanadischen Westküste erwarteten Gastankern, die bis zu 170.000 Kubikmeter LNG befördern sollen, das wiederum aus Erdgas-Fracking gewonnen wird.
Für die mehrere hundert Kilometer langen Fjord-Fahrten dieser LNG-Carrier durch bewohntes Gebiet zeichnen kanadische Anti-Fracking-Aktivisten ein drastisches Bewegtbild einer LNG-Tankerhavarie: Sie fürchten einen Feuerball mit einem Radius von 1,6 Kilometern Durchmesser. Wie realistisch das Szenario ist, lässt sich nicht leicht sagen.
Erfahrungswerte sammeln: „Blow up a truck!“
Bei all den potenziellen Gefahren steht fest: Bislang verliefen sämtliche Zwischenfälle mit LNG-Transporten oder -Antriebssystemen vergleichsweise glimpflich. Das gilt sowohl für die einzige Havarie eines LNG-betriebenenen Schiffes auf Binnengewässern; als auch für die Ozeane, wo die Norwegische Seefahrtsbehörde seit 1963 zwar 180 Havarien mit LNG-Carriern, darunter aber nur einen Todesfall und fünf Brände gezählt hat. Sowohl Rotterdam als auch Mannheim haben Vorsichtsmaßnahmen für LNG-Bunkerungen mittels Tankwagen getroffen, sämtliche Transfers verliefen problemlos.
Welche Kräfte ein LNG-Unfall entfalten kann, zeigt ein Bericht aus China: Dort starben bei einer LNG-Tankwagen-Explosion im Jahr 2012 fünf Menschen. Auch hierzulande rollen täglich Benzin- oder Gas-Tankwagen über die Straßen. Unfälle mit Ladungsaustritt und Folgeschäden hat es jedoch lange nicht gegeben.
Fest stehen aber auch die Bedenken von Mo-Ajok: „Erfahrungswerte mit großen LNG-Löscheinsätzen haben wir noch keine – weder auf dem Wasser noch auf der Straße.“ Scherzhaft würde er den Feuerwehrleuten eher dazu raten, sich bei einem LNG-Austritt nicht auf ihre Messgeräte, sondern auf ihre Nikes zu verlassen: Den Gefahrenbereich zu evakuieren und defensive Maßnahmen zu ergreifen, sei in den meisten Fällen oberstes Gebot.
Der mangelnden Erfahrung könne man ja mit einem groß angelegten Versuch entgegentreten, schlug der für Verkehr zuständige EU-Kommissionsberater Helmut Morsi vor. Einen LNG-Tankwagen auf einem Testgelände in Brand zu setzen, müsse doch machbar sein. Brian Mo-Ajok zeigte sich begeistert: „Let‘s do this!“ „Sponsored by the European Union“, kommentierte Moderator Tom Hegermann.
Zum Standpunkt: Warum der Worst Case ein Thema ist
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